Dieser Weihnachtsbrief für das Jahr 2003 unterscheidet sich
sehr von den vorhergehenden. Bisher habe ich immer einige Gedanken
herausgegriffen, um unseren Verwandten, Freunden und Bekannten be
sinnliche Denkanstöße zur Weihnachtszeit zu geben. Dazu reichten 3½
Seiten. Nun habe ich aber mein 82. Lebensjahr vollendet und merke, daß
es mir immer schwerer fällt, wesentliche Gedanken überzeugend nieder
zuschreiben. Wie lange wird es mir noch gelingen?
Ich frage mich aber auch, was einmal von dem, was ich seit
45 Jahren als meine Lebensaufgabe ansehe, übrigbleiben wird, mit welchen weiterreichenden Überlegungen ich noch dazu beitragen kann, daß
die wundervolle Erde nicht in Kürze durch kurzsichtige und egoistische
Politik in einem Chaos versinkt. Die Zeit drängt; denn es werden weltweit
immer mehr Entscheidungen getroffen, die in die falsche Richtung gehen
und immer schwerer rückgängig gemacht werden können.
So wird dieser Brief länger werden als die bisherigen und
nicht unbedingt als Weihnachtsbrief anzusehen sein. Aber wohlgemerkt:
Ich habe keine Patentrezepte! Ich will Denkanstöße geben, die mir vielleicht leichter fallen, weil ich mir angewöhnt habe, global zu denken oder
mich gar gedanklich als 'Außerirdischer' zu fühlen1, der auf keine Tabus
Rücksicht nehmen muß.
Ich habe Physik studiert. Da habe ich gelernt, die Probleme
nicht nach den eigenen Wünschen oder Lehrmeinungen, sondern nach den
Fakten zu bewerten. Ich werde also nicht zu irgendwelchen Aussagen
kommen, weil die Denkrichtung etwa von Adam Smith oder Karl Marx
vorgegeben wurde.
Wir geraten, wenn wir so weitermachen wie bisher, immer
mehr in eine Sackgasse. Aber ich sage - mit den Leuten von Attac:
"Eine andere Welt ist möglich!" - Ich will versuchen einsichtig
zu machen, daß Lösungen grundsätzlich möglich sind, wenn es gelingt,
weltweit die Menschen dazu zu bringen, neue Wege zu gehen. - Ob das
gelingen könnte, ist äußerst fraglich; denn die Überlegungen setzen ein
vollständiges Umdenken voraus, das man in kleinen Gruppen vielleicht
erreichen könnte. - Aber in der Welt? -
Es gibt allerdings dann eine kleine Chance, daß diese Wege
begangen werden, wenn die Gefahr im 'Soweitermachen' überall erkennbar wird und Lösungsmöglichkeiten denkbar sind. Diese mögen zunächst utopisch erscheinen. Für viele bedeutet das, daß sie unerreichbar sind. Wir haben es jedoch in den vergangenen Jahrzehnten
immer wieder erlebt, daß scheinbar Unmögliches doch gelungen ist.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Flug zum Mond. Schon viele
Jahre vor der Landung begann das Denkbarmachen. Es wurde überlegt,
welche Bedingungen erfüllt werden müßten, damit der Flug eines Raumschiffes hin und zurück möglich wird. So kam man zum Mehrstufenprinzip, bei dem die nicht mehr benötigten Teile abgestoßen werden.
Damit hatte man genaue Vorgaben, wie das System konstruiert werden
mußte, damit der Erfolg wahrscheinlich und damit denkbar wird. Die
Fortschritte in Raketen- und Computertechnik ermöglichten dann die
Realisierung, für die das Apollo-Großprojekt in Gang gesetzt wurde.
Priorität der Wirtschaft - die Wurzel der Fehlentwicklung
Die Ursachen für die heutigen weltweiten Probleme liegen
meines Erachtens darin, daß die Wirtschaft, nicht - wie ursprünglich
gedacht - die Dienerin des Menschen, sondern Herrscherin geworden ist.
Bedauerlich ist, daß das von den meisten - gewissermaßen als (scheinbares) Naturgesetz - hingenommen wird. Durch die Globalisierung hat sie
eine Macht bekommen, die kaum noch zu brechen ist. Diese Art der
Globalisierung hat heute schon dazu geführt, daß weltweit kaum noch ein
Politiker in der Lage ist, die sozialen Interessen seines Volkes durch
zusetzen. 'Weltbank', 'Weltwährungsfond' und 'Welthandelsorganisation'
(WTO) haben einen so positiven Klang, daß nur wenige merken, wie
gefährlich diese Institutionen sind. - Sehr lesenswert ist hierzu das Buch
von Jean Ziegler. Er war bis 1999 Schweizer Nationalrat und ist jetzt
Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission für Recht und
Nahrung. Sein Buch heißt: "Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher" (Bertelsmann-Verlag, 2003)
Ziegler schreibt: "Wie gelingt es den neuen Herrschern
der Welt, sich an der Macht zu halten, wo doch die Unmoral, die sie leitet,
und der Zynismus, der sie erfüllt, für niemanden zweifelhaft sind? Worauf
beruht das Geheimnis ihrer Verführungskraft und ihrer Macht? Wie kann
es sein, daß auf einem mit Reichtümern gesegneten Planeten Jahr für Jahr
hunderte Millionen von Menschen Opfer von äußerster Armut, gewaltsamem Tod und Verzweiflung werden?"
Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung
Ich kann, wie ich eingangs sagte, keine fertigen Lösungen der weltweiten Probleme anbieten. Ich kann nur andeuten, in welcher
Richtung wir sie nach meiner Meinung finden könnten. Radikalität ist
notwendig! Es geht nicht um kleine Änderungen z.B. im Steuersystem.
Wir müssen uns fragen, ob wir nicht zu einer ganz anderen Lebensweise
kommen müssen. Vieles, was uns jetzt schöne Gewohnheit ist, muß infrage gestellt werden. Ein ganz anderes Denken in Bezug auf unsere
Mitmenschen und unsere Umwelt ist nötig. Wenn wir es nicht einleiten,
werden es unsere Kinder und Enkel mit viel schmerzlicheren Erfahrungen
tun müssen.
Meine Forderungen mögen - wie bereits gesagt - utopisch
klingen, weltfremd. Aber wir müssen uns damit befassen. Also fragen wir
uns, unter welchen Bedingungen langfristig die Existenz der Menschen
gesichert werden kann. Meines Erachtens sind es hauptsächlich zwei:
1. Es muß weltweit allen Menschen ein erträgliches Leben
ermöglicht werden, das nicht nur beim Existenzminimum liegt. Das
heißt also, daß wir unser Denken 'globalisieren' müssen.
Eine nachhaltige Lösung für die Bundesrepublick oder die EU oder
die Industriestaaten allein kann es nicht geben.
2. Der Begriff 'Nachhaltigkeit' bedeutet aber auch, daß wir
immer wieder fragen müssen, wie sich unsere Entscheidungen langfristig auswirken werden. Maßnahmen, die uns heute zwar Luft verschaffen, aber den Folgegenerationen neue Probleme aufbürden, sind
nicht zulässig. Die Umwelt muß also so schonend behandelt werden,
daß sie auch für viele spätere Generationen noch im Gleichgewicht
ist.
Die Wirtschaft muß auch ohne Wachstum funktionieren.
Unser derzeitiges Wirtschaftssystem kann das nicht leisten;
denn bei ihm ist ein ständiges Wachstum Voraussetzung. Soweit es sich
dabei um materielle Dinge handelt, wird aber die Umwelt immer stärker
belastet, werden die Rohstoff- und Energiequellen immer weiter ausgebeutet. Frederic Vester, der leider im Herbst dieses Jahres 77jährig vertorben ist, hat in seiner ausgezeichneten Wanderausstellung "Unsere
Welt, ein vernetztes System" einen ganz wichtigen Satz geprägt:
"Wenn wir das nächste Mal von Wachstum reden, so sollten wir daran
denken: Wir haben nur diesen einen Planeten, und der wächst nicht
mit!" - Uns werden politische Entscheidungen vorgestellt, die nur
unter der Voraussetzung eines bestimmten Mindestwachstums funktionieren. Also müßten wir es anstreben! - Die Zeit ist aber längst vorbei, in der
man unsere Wirtschaftsprobleme so lösen konnte.
Heute
brauchen wir ein System, das auch ohne Wachstum funktioniert.
Die Wachstumsideologie ist nicht nur im kapitalistischen
System zu finden. Auch der Marxismus baut darauf und kann deshalb
nicht die Grundlage eines Umdenkens sein. - Ich meine, daß wir uns auf
die Frühstadien menschlichen Wirtschaftens zurückbesinnen und die Welt
als Ganzes betrachten müssen. Wir brauchen also eine sehr weite Perspektive und zwar räumlich, zeitlich und ideologisch. Die haben unsere
derzeitigen Politiker und Wirtschaftslenker kaum. Der Grund liegt in
unserem gesamten System, welches durch Eigennutzdenken geprägt ist.
Adam Smith, auf den sich die Wirtschaftsführer immer noch berufen,
meinte, daß jeder nur an seinen eigenen Vorteil denken müsse, dann
würde es allen gut gehen.
Eigennutz durch Gemeinschaftsdenken ersetzen!
Dieses Wirtschaftssystem funktioniert nur bei möglichst
großem Wirtschaftswachstum. Das Kapital ist der Motor, und dieses muß
Zinsen bringen. Doch das Zins- und Zinseszinssystem ist nicht stabil. Es
führt zu immer schnellerem (exponentiellem) Anstieg, den kein reales
System beliebig lange mitmacht. Es macht die Armen immer ärmer und
die Reichen immer reicher. Um die Wirtschaft in Schwung zu halten, muß
immer mehr produziert werden. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob
diese Produkte sinnvoll sind. Wozu brauchen wir z.B. das voll elektronisch gesteuerte Haus, wenn gleichzeitig täglich in den sogenannten
Entwicklungsländern Tausende von Menschen verhungern.
Das Lebensrezept des 'Neo-Darwinismus' heißt heute: "Du
mußt besser sein als die anderen! Nutze alle Chancen, Gewinne zu machen! Der Wettbewerb bringt uns voran! Der Schwächere mag zugrunde
gehen! So ist es auch in der Natur!" - Wenn wir die Jugend auf diese
Weise dazu erziehen, nur auf ihren eigenen Vorteil zu achten, wie es
Adam Smith vorgab, wird in Zukunft das Chaos immer größer werden.
Wir benötigen Lehrer, die - vielleicht auch gegen den Widerstand der
meisten Eltern - den Kindern ein neues Gemeinschaftsdenken beibringen.
Mit dem 'Neo-Darwinismus' geht die Menschheit dem Ende entgegen.
Das Gewinnstreben darf nicht länger Motivation für die
Wirtschaftstätigkeit sein. Die Gegenthese zu Adam Smith muß lauten:
Wenn jeder bei seinem Handeln auch an das Wohl der anderen denkt,
wird es auch ihm zunehmend besser gehen.
'Raumschiffdenken' ist notwendig.
Entgegen den Ansichten, die die Wirtschaftswissenschaft
verbreitet, gilt es zu erkennen: Die Wirtschaft gehorcht keinem
Naturgesetz. Sie muß sich den Bedürfnissen der Menschen unterordnen, nicht umgekehrt. Das heißt: Sie muß so geführt werden,
daß die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden. Es ist nicht erforderlich, sondern meist schädlich, wenn neuer Bedarf geweckt wird,
nur, damit das System am Laufen bleibt.
Die Erde ist als ein riesiges Raumschiff anzusehen, das mit
dem auskommen muß, was es bei sich führt. Nur die Sonnenenergie
versorgt es zusätzlich. Daraus ergeben sich die Anforderungen für ein
nachhaltiges Wirtschaftssystem. Es werden genügend Science-Fiction-
Filme gezeigt, so daß wir uns wohl in die Situation auf einem Raumschiff
hineindenken könnten. - Vielleicht ist es aber einfacher, die Probleme und
ihre Lösungsmöglichkeiten zu erfassen, wenn wir annehmen, daß ein
größeres Schiff - vielleicht um 1800 - an einer einsamen Insel gestrandet
ist und keine Verbindung zu der übrigen Welt besteht. Auch dann brauchen wir das, was ich als 'Raumschiffdenken' bezeichne. -
Man hat Menschen mit den verschiedensten Fähigkeiten.
Außerdem hat man Werkzeuge und Material vom Schiff. Es muß also das
Überleben organisiert werden. Alle wissen, daß sie das nur gemeinsam
schaffen können. In so einem Falle nützt Geld zunächst nichts. Man wird
untersuchen, was noch an Lebensmitteln verfügbar ist, auf welche Weise
neue geschaffen werden können. - Kommt man bis zur nächsten Ernte? -
Was gibt es an tierischer Nahrung? Wild? Fische? - Womit kann man die
Kleinkinder ernähren? - Die Lebensmittel müssen eingeteilt werden. Es
darf aber das mögliche Saatgut nicht aufgegessen werden. Technische
Einrichtungen sind nötig, um die Lebensumstände zu verbessern (für
Ackerbau, Fischfang, Jagd, Unterkünfte usw.) - In den ersten Monaten
wird man wahrscheinlich nur mit straffer Zuteilung der nötigen Arbeit die
Probleme bewältigen können. Das, was man an Nahrung hat, wird gleichmäßig verteilt werden. Auch Unterkünfte, die Minimalanforderungen
genügen, werden für alle geschaffen werden.
Wenn sich alles eingespielt haben wird und die Grundbedürfnisse befriedigt sind, werden sich die Schiffbrüchigen - jeder nach
seinen Fähigkeiten - darüberhinaus mit der Produktion der verschieden
sten Dinge beschäftigen, vielleicht auch Musik machen, die alle gerne
hören. Dann beginnt der Tauschhandel, der aber auf Schwierigkeiten
stößt, wie wir uns am Beispiel des Musikers klarmachen können, der nicht
so einfach seine Kunst gegen praktische Gegenstände eintauschen kann.
Deshalb wird man nun Geld einführen, das jedoch nur zur Vereinfachung
des Tauschens dienen soll. Das ist solange gut, wie man das Geld wirklich
nur als Tauschhilfsmittel und nicht als Ware ansieht, für die ein Preis,
nämlich Zins, gezahlt werden muß.
Soweit dürfte es, nicht nur auf der einsamen Insel, sondern
auch auf unserem 'Raumschiff Erde' gutgehen, wenn das Gemeinschaftsdenken die Oberhand über das Gewinnstreben des Einzelnen bekommt.
Diese Forderung könnte schon in relativ kurzer Zeit für die gesamte
Erdbevölkerung überlebenswichtig werden.
Ein 'unmögliches' Szenario
Stellen wir uns vor: Durch die vielen weltweiten Folgen von
Fehlentscheidungen in Politik und Wirtschaft von heute ist es - vielleicht
in 20 Jahren - zu chaotischen Zuständen gekommen. Jeder denkt nur an
sich und versucht, auf Kosten der Mitbürger und der Umwelt, soviel wie
möglich für sich und seine Familie zu raffen oder wenigstens das Überleben zu sichern. - Es wird von den Vereinten Nationen, die viel größere
Macht haben als jetzt, der weltweite Notstand ausgerufen. Militärisch
geschulte Leute übernehmen das Kommando. Private Interessen sind
ihnen gleichgültig. Es geht nur darum, ein gerechtes Gesellschaftssystem
zu schaffen, das die Bedürfnisse aller befriedigt und dabei die Umwelt
weitestgehend schont. Privilegien auf irgendeinen persönlichen Besitz
oder auf Patente gibt es nicht mehr. Die bisherigen Währungen werden
abgeschafft und - wie bei der Währungsreform 1948 - ein 'Kopfgeld' in
neuer Währung ausgegeben und Bezugsscheine eingeführt.
Dann wird weltweit Inventur gemacht, der sich niemand mit
seinem Besitz und seinen persönlichen Fähigkeiten entziehen kann. Sämtliche Rohstoffe, Produktionsmittel und Ländereien kommen in die Verfügungsgewalt dieser 'Militärregierung'. Diese besteht aber nicht aus Menschen mit einem auf das Militärische beschränkten Horizont, sondern aus
außerordentlich klugen Leuten, die nur nicht bereit sind, in herkömmlichen 'Denkgleisen' weiterzufahren.
Man wird feststellen: Es lassen sich genügend Lebensmittel
für alle produzieren, wenn die landwirtschaftlichen Flächen sinnvoll
genutzt werden. Alte und Kranke können ohne Einschränkung ihres Lebensstandards mitversorgt werden. Langfristige Voraussetzung ist allerdings, daß die Bevölkerungszunahme gebremst und möglichst bald auf
Null gebracht wird.
Die Industrie läßt sich so einsetzen und ggf. ihre Produktivität so steigern, daß alle Belange befriedigt werden können. (Denken wir
doch daran, daß im Herbst des Jahres 1944 in Deutschland die Waffen
produktion einen Höchststand erreichte, obwohl durch den Bombenkrieg
sehr viele Produktionsstätten zerstört worden waren.) Es geht allerdings
darum, daß die Lebensbedürfnisse befriedigt werden und nicht immer
wieder - mehr oder weniger unsinniger - Bedarf geweckt wird. Dazu
lassen sich Regeln einführen, die dafür sorgen, daß der Umweltzerstörung
Einhalt geboten wird. Ein nachhaltiges Wirtschaftssystem läßt sich so
aufbauen.
Wenn die Intelligenz auf dieses eine Ziel ausgerichtet und
die Konkurrenz ausgeschaltet wird, werden die Menschen erkennen, daß
alles zusätzlich auch noch mit geringerem Arbeitsaufwand zu erreichen
ist, . Aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus - nicht wegen des Gewinnstrebens - wird man die besten Problemlösungen vorschlagen, die sich
dann durchsetzen.
"Wo bleibt dann aber der Fortschritt?" wird gefragt. - Brauchen wir jedoch eine so rasante Entwicklung, die uns (die 'Beschleuniger')
zu Sklaven der Wirtschaft macht? - Wenn die Entwicklung langsamer
vorankommt, werden wir manchen Weg in eine Sackgasse vermeiden
können.
Raumschiffdenken heißt, daß alle sich als Gemeinschaft
fühlen und ihre Arbeitskraft und geistige Leistungsfähigkeit für das eine
Ziel nutzen, nämlich das Raumschiff mit allem, was darin ist, aktions- und
lebensfähig zu erhalten. Das Ansehen des Einzelnen wird nicht von seinem materiellen Besitz, sondern davon abhängen, wieviel er - seinen
Fähigkeiten entsprechend - zu diesem Ziele beigetragen hat.
Wenn wir eine grundlegende Haltungsänderung der Menschen voraussetzen, muß dieses Szenario nicht unmöglich sein. Wir haben
alle Mittel und Kenntnisse, um das realisieren zu können. Dabei dürfte,
bei aller notwendigen Lenkung, auch noch genügend Spielraum für die
Persönlichkeitsentfaltung bleiben.
Schauen wir auf die Natur, auf unseren Organismus. Es gibt
Organe, deren Funktion wir nicht beeinflussen können, von deren richtigem Arbeiten aber unser Leben abhängt. - Denken wir an den Blutkreislauf, die Atmung, die Verdauung usw. - Diese dienen im weiteren Sinne
der Versorgung unseres Körpers. Demgegenüber haben wir aber auch
Organe, die wir - innerhalb bestimmter Grenzen - frei nach unseren Wünschen einsetzen können. Wir können z.B. mit hohem Tempo laufen, aber
nicht beliebig lange. Diese Organe, zu denen auch weite Teile des Gehirns
gehören, dienen unserer Entfaltung.
Wäre es für uns - als Passagiere des Raumschiffes Erde -
nicht sinnvoll, wenn wir durch gründliche Planung unserer Versorgung
sicherstellen könnten, daß wir dadurch im Bereich der Entfaltung möglichst große Spielräume bekämen? Mein Vorschlag lautet: Soviel
Planung wie nötig! - Soviel Freiheit wie möglich! - Die Planwirt
schaft der ehemaligen Ostblockländer ist keinesfalls als ein nachahmenswertes Beispiel zu sehen. Es kommt auf die Fähigkeiten der Planer und
ihre Hilfsmittel an. Der Zusammenbau eines Autos mit der Beteiligung
vieler Zulieferfirmen zeigt, was eine sinnvolle Planwirtschaft leisten kann.
- Solche Überlegungen müssen ganz ideologiefrei erfolgen. Es geht einzig
und allein darum, wie wir erreichen können, daß die Welt der Menschen
gerechter funktioniert.
Eine durch die Umstände - vielleicht in 20 Jahren - erzwungene Wende mag für viele als zu hart empfunden werden. Wenn wir
eine sanftere wollen, müssen wir heute damit anfangen. Viele werden um
ihre 'Freiheit' fürchten. Doch was ist Freiheit? - Die wahre Freiheit ist für
mich, wenn ich aus Erkenntnis des Notwendigen aus eigenem Antrieb das
Richtige tue.
Ein 'irrsinniges' Wirtschaftssystem
Ich habe zu zeigen versucht, daß eine Wirtschaft, die alle
Menschen zufriedenstellen könnte, möglich wäre. Dann ist es doch widersinnig, daß - ausgerechnet mit 'wissenschaftlicher Untermauerung' - ein
System geschaffen worden ist, das, wenn wir ehrlich sind, überall die
Situation verschlechtert. (Natürlich gibt es Nutznießer, die da widersprechen.) Ist dann aber die Bezeichnung 'irrsinnig' für das derzeitige System
zu hart? - Die Wirtschaftswissenschaftler stützen sich auf ein Axiom, eine
Behauptung, die nicht bewiesen werden kann. Es ist die erwähnte These
von Adam Smith. Vielleicht konnte man sie zu einer Zeit vertreten, als
sich die Technik noch rasant entwickelte und niemand an Umweltschäden
dachte. Jetzt befindet sich die Kurve der Wirtschaftsentwicklung aber
ziemlich im Sättigungsbereich. Wir können uns aus Umweltgründen keine
Verschwendung mehr leisten, die z.B. durch konkurrierende Entwicklungen zwangsläufig entsteht.
Die Fakten sind derzeit: Die Reichen werden immer reicher,
die Armen immer ärmer. Die Zahl der Todesopfer durch Hunger, Gewalt
und Verzweiflung beträgt, wie Jean Ziegler schreibt, jährlich Hunderte
von Millionen. Wir nehmen das hin, kämpfen aber mit Erbitterung darum,
daß bereits die befruchtete Eizelle Menschenwürde habe und nicht getötet
werden dürfe. - Was ich nun weiter aufzähle, kann nur beispielhaft sein:
Die Natur wird gnadenlos ausgebeutet und dabei Energie
und Rohstoffe verschwendet. Umweltschutz wird ständig - zugunsten der
Wirtschaft - mißachtet. Mit der Drohung des Verlustes von Arbeitplätzen
erzwingt die Wirtschaft immer wieder politische Entscheidungen zu ihrem
Vorteil, ohne daß die versprochenen Verbesserungen dann wirklich eintreten. Immer neue Produkte werden uns angepriesen, damit wir die gar
nicht so alten wegwerfen. "Wachstum, Wachstum über alles!" lautet die
derzeitige Globalisierungs-Welthymne. Bei uns gibt es immer mehr Arbeitslose, weil die Produktion in Asien billiger ist. Signale der Natur
wegen der Störung des Gleichgewichts werden nicht nur mißachtet, sondern bewußt abgestritten.
Immer mehr Menschen fallen durch das soziale Netz. Der
Bundeskanzler steigt voller Stolz medienwirksam in ein neues Kampfflugzeug, das pro Stück 100 Millionen Euro kostet. Es wird hoffentlich
nicht eingesetzt, aber es sichert Arbeitsplätze. Die Menschen sollen bis
zum 67. Lebensjahr arbeiten, obwohl nicht genügend Arbeit geboten
werden kann. Es gäbe aber Arbeit - z.B. im Pflegebereich und in der
Erziehung - doch diese kann nicht bezahlt werden.
Da die 'Entwicklungsländer' meist verschuldet sind, kann
man sie durch die Drohung des Entzugs weiterer Hilfe zur Durchführung
von allen möglichen Maßnahmen zwingen, die nicht in ihrem Sinne sind.
- Die USA erkaufen sich sogar ein bestimmtes Abstimmungsverhalten in
der UNO oder die Zusicherung, daß sie - entgegen der UNO-Entschließung - keine amerikanischen Kriegsverbrecher an den Internationalen
Strafgerichtshof ausliefern werden.
Krankenversicherung
Die derzeitigen Versuche, mit dem Krankenkassen- und
Rentenproblem fertigzuwerden, laufen genau in die falsche Richtung. Der
Krankenkassen-Pflichtbeitrag soll niedrig gehalten werden. Doch das
nützt nur dem Arbeitgeber, der angeblich dann die Wirtschaft in Schwung
bringt. Um die Leistungsminderung der Pflichtkassen aufzufangen, soll
sich dann der Arbeitnehmer privat zusätzlich versichern. Doch das wird
nicht billiger, sondern teurer. Daß sich die Privatkassen um solche Verträge reißen, geschieht doch nicht aus Menschenliebe, sondern, weil sich
die Kassen Gewinne versprechen. Diese sind - ohne Gegenleistung - vom
Versicherten aufzubringen. Sein Beitrag wird also höher. - Völlig irrsinnig
ist der Gedanke, daß für jede Person - ob arm oder reich - der gleiche
Beitrag gezahlt werden soll. Der Arme kann das Geld nicht aufbringen
und wird somit Bittsteller bei der Sozialhilfe. - Eine entwürdigende Zumutung! Es mag viele geben, die lieber hungern. Der Reiche dagegen zahlt
den Beitrag 'aus der Portokasse'.
Das Rentenproblem
Die 'Riesterrente' ist keine Lösung für die Altersversorgung.
Sie ersetzt das Prinzip des Generationenvertrages durch eine Kapitalansparung, die darauf aufbaut, daß durch gute Verzinsung der Betrag stetig
wächst. Auch um dieses Geschäft reißen sich die Versicherungen. - Aus
reiner Menschenliebe? - Die hohe Verzinsung wird aber nur erwartet. Der
garantierte Zins ist viel niedriger. - Da, wegen der anderen bereits genannten Probleme, die Wirtschaft im materiellen Bereich in Zukunft nicht
mehr wachsen darf und auch die Zinsen gedrückt werden müssen, ist ein
Rentenmodell, das sich auf Verzinsung von Kapital stützt, für nachhaltiges Wirtschaften unbrauchbar.
Der Generationenvertrag, bei dem alle nach ihrem Leistungsvermögen beteiligt werden müssen, ist die einzig sinnvolle Lösung.
In einer Gesellschaft mit Gemeinschaftsgeist braucht es keine Kürzungen
der Renten zu geben. Ich habe während meiner Berufstätigkeit den damaligen Rentnern die Rente mitfinanziert. Jetzt zahlen die derzeit in Lohn
und Brot Stehenden meine Rente. Die Folgegeneration wird dann für ihre
Renten aufkommen. - Es geht auch nicht um eine gewisse Geldsumme,
sondern um die Frage, was man dafür kaufen kann. Das Ganze ist also ein
Verteilungsproblem von dem, was zu einer bestimmten Zeit zur Verfügung steht. Niemand möchte im Alter in seinem Lebensstandard stark
eingeschränkt werden. Bei vielen älteren Kulturen ist es selbstverständlich, daß das Vorhandene geteilt wird. Sollten wir nicht auch auf das
egoistische Denken verzichten?
Wegen der Umweltprobleme muß die Bevölkerungszahl
begrenzt werden. Die Forderung nach mehr Kindern (die dann vielleicht
arbeitslos sind) ist keine Lösung. Es kann nur das verteilt werden, was zur
Verfügung steht. Gibt es mehr Menschen, so werden die Portionen kleiner. - Warum sollen nicht später einmal 50% des Erwirtschafteten in die
Rentenkasse fließen, wenn die Produktivität pro Kopf entsprechend gesteigert wurde oder die Menschen erkennen, daß ein bescheidenerer
Lebensstil dem Leben mehr Sinn gibt?
Eigenverantwortung
Eine Reihe von Politikern fordert mehr Eigenverantwortung
des Einzelnen für sein Leben und seine Zukunft. Doch der 'kleine Mann' -
häufig warmherziger als andere - ist oft nicht in der Lage, sich in unserem
komplizierten System zurechtzufinden. - Diese Politiker fordern mehr
Leistung. Aber 'Leistung' hat nur einen Wert als Leistung für die Gemeinschaft! Wer weit aufsteigen will, muß dagegen 'clever' sein. - Doch, was
hat der 'clevere' Aktienspekulant geleistet? Mit Spekulation werden keine
Werte geschaffen. Wer gewinnt, gewinnt auf Kosten anderer. - Viele, die
auf der Strecke bleiben, wollen da möglicherweise einfach nicht mitmachen.
Gibt es Chancen zur Änderung?
Ich habe versucht, die wesentlichen Probleme zu zeigen und
das, was alles in die falschen Richtung läuft. Die Politiker haben kaum
Möglichkeiten zum Umsteuern. Gibt es trotzdem Chancen, aus dem Dilemma herauszukommen? - Wie Jean Ziegler schreibt, gibt es in aller
Welt - außer den vielen, die mitmachen im gegenseitigen Kampf um
immer mehr materiellen Besitz - eine immer größer werdende Zahl von
Menschen aus allen Gruppen, die sich dagegen stemmen. Durch das
Internet haben sie die Möglichkeit außerordentlich schnell zu gemeinsamen Aktionen zusammenzufinden. Attac gibt uns ein Beispiel. Viele suchen nach neuen Ideen, die ihrem Leben Sinn geben
können. Je mehr sich zusammenfinden, desto schneller wird die Zahl -
ähnlich einem 'Schneeballsystem' - wachsen.
Ob das reichen wird, weiß ich nicht. Doch es hat schon
immer Utopien gegeben, die wahrgeworden sind, allerdings nicht, wenn
ungeeignete Menschen das Heft in der Hand halten. Eine ähnliche Fehlentwicklung - wie die des Sozialismus im 20. Jahrhundert - darf es nicht
geben. Da klaffte eine zu große Lücke zwischen dem guten Anspruch und
der Wirklichkeit.
Wir haben genetisch bedingte Anlagen, die uns heute Probleme bereiten. Durch die gewaltige Entwicklung des Gehirns haben wir
einmal die krankhafte Fähigkeit bekommen, unseren eigenen Lebensraum
so zu verunstalten, daß wir unsere Lebensgrundlage zerstören. Die hohe
Entwicklung des Gehirns gibt uns aber auch die Voraussetzung, dies zu
erkennen und eine Lebensform zu entwickeln, die diesen Trieben entgegenwirkt.
Damit komme ich auf das zurück, was ich immer wieder
betone: Wir werden die Krise nur meistern, wenn wieder überall die Liebe
die Oberhand gewinnt. Es ist nicht die Liebe zu uns selbst, sondern zu
allen Menschen, zu Tieren und Pflanzen, zu dieser wundervollen Erde, auf
der wir nur eine kurze Zeit zu Gast sein dürfen. Die Erde muß den heute
Lebenden und auch den späteren Generationen ein erfülltes Leben ohne
größere Not ermöglichen. - Die Wandlung muß friedlich verlaufen. Nur dann kann sie gelingen. Wir dürfen dabei nicht nur zusehen.
Wir brauchen Kraft zum eigenen Einsatz und sollten darin den Sinn unseres Lebens erkennen. Der friedliche Weg zu einer gerechteren Welt ist ein
wundervolles Ziel. Nicht im Krieg, sondern auf diesem Weg finden
wir die wahren Helden.
Anmerkungen:
1 Ich kann in diesem Brief vieles nur kurz ansprechen. Mehr zu den Gedanken, die hier eine Rolle spielen, findet sich in meinem Buch: "'Unternehmen DELPHIN gescheitert - Es kommt jetzt auf uns alle an' - Notizen und Gespräche über Gegenwart und Zukunft unseres Planeten"
2 Ein leicht verständliches Buch hierzu ist von Prof. Margrit Kennedy: 'Geld ohne Zinsen und Inflation - ein Tauschmittel, das jedem dient.' - 1990 - 242 S. - 8 Euro - Es ist über den Verlag Humanwirtschaft, Humboldtstr. 108, 90459 Nürnberg zu beziehen. Im gleichen Verlag erscheint auch 6mal jährlich die ausgezeichnete Zeitschrift 'Humanwirtschaft' - 30 Euro pro Jahr. Viele Bücher zu diesem Thema sind ebenfalls über den Verlag zu beziehen
3 Mehr hierzu in 'Unternehmen DELPHIN ...', Kap. 'Alternative Wirtschaftsformen' S. 264 - 284 4 'Unternehmen DELPHIN ....', S. 277 5 Siehe auch 'Unternehmen DELPHIN ...', Kap. 'Rentendiskussion', S. 294 - 299
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