Vorbemerkung
Liv Ullmann, norwegische Schauspielerin und Botschafterin für UNICEF, sagte
in einem Fernsehinterview, das am 24.11.85 gesendet wurde, sie sei vor Jahren einmal in einem
Hungerlager in Äthiopien gewesen. Dort habe sie erlebt, wie ein kleiner abgemagerter Junge
sich bei einer Spendenausgabe hinten eingereiht habe, obwohl er erkennen mußte, daß das Essen
nur für einen Teil in der langen Schlange reichen würde. Bei allem, was sie in ihrem Leben
seither tue, müsse sie nun an diesen kleinen Jungen denken, der sicher inzwischen schon
verhungert sei. - Diese Äußerung brachte mich auf die Idee, das, was ich im Herbst in meinen
Vortrag "Den Frieden denkbar machen!" als utopischen Denkansatz eingeflochten habe, nun in
der Form dieses Weihnachtsmärchens niederzuschreiben, damit der "Geist der Liebe"
weiterwirkt.
Es war einmal im November des Jahres 1985. Die Führer der beiden Großmächte
unserer Erde - USA und Sowjetunion - hatten beschlossen, sich nach mehr als 6 Jahren wieder
einmal zusammenzusetzen. Beim letzten Treffen waren noch ihre Vorgänger an der Macht
gewesen. Seither war das Mißtrauen immer größer geworden. Immer mehr und immer
gefährlichere Massenvernichtungsmittel, die immer noch "Waffen" genannt wurden, bargen die
Gefahr in sich, daß das Leben auf der Erde ausgelöscht werden könnte. Doch nun wollten sie
auf dem Gipfeltreffen in Genf versuchen, die Spannungen wieder abzubauen.
Einige Wochen vor der Konferenz - als man sich noch aus dem Wege ging - war
jeder der beiden Staatsmänner auf einem Empfang anläßlich der Jubiläumsfeierlichkeiten der
Vereinten Nationen einer Frau begegnet, die sich ehrenamtlich als Botschafterin für UNICEF
einsetzte. Sie erzählte ihnen, wie sie in Äthiopien Hunger und Elend von Tausenden
kennengelernt habe. Eines von diesen armen Geschöpfen - ein kleiner Junge - bliebe ihr seitdem
im Gedächtnis und mahne sie, alles zu tun, um das Elend in dieser Welt mindern zu helfen. Sie
sei der Auffassung, daß man die ungeheuren Rüstungsausgaben nicht verantworten könne, wenn
auf der Welt solches Elend herrsche. Es könne alles besser sein, wenn nicht Angst und
Mißtrauen, sondern zwischenmenschliche Liebe und die Liebe der Menschen zu ihren
Mitgeschöpfen und zur Natur sie in ihrem Handeln leiten könnte.
Keine der vom Hunger gezeichneten armen Kreaturen würde wohl Verständnis für
die Gründe aufbringen, die die Spitzenpolitiker für ihren Rüstungswettlauf anführen. Man solle
es doch einmal versuchen und das Treffen nicht in Genf sondern in einem dieser Hungerlager in
Äthiopien stattfinden lassen. Wenn es dann noch möglich sei, auf der derzeitigen Politik zu
bestehen, wolle sie sich geschlagen geben. -
Es geschah etwas Außergewöhnliches. Während Menschen auf solche massiven
Vorhaltungen normalerweise aggressiv reagieren, ging von dieser Frau und ihren Worten eine
solche Herzenswärme aus, daß die angesprochenen Politiker recht nachdenklich wurden.
Trotzdem lehnten sie diesen Vorschlag als undurchführbar ab.
Aber bald gab es in der Welt ein anderes Ereignis, das die Zweifel an der
bisherigen Weltsicht bei den führenden Politikern verstärkte: In Kolumbien brach der Vulkan
Nevado del Ruiz aus und begrub unter ungeheuren Schlammfluten mehr als 20.000 Menschen.
Plötzlich hatten die Wissenschaftler doch recht, die vor dem Ausbruch gewarnt hatten, während
weder die verantwortlichen Politiker noch die Bevölkerung zu rechtzeitigem Handeln bereit
waren. Sie hatten die Gefahr nicht wahrhaben wollen.
Es ist leicht, über die Uneinsichtigkeit anderer zu richten, während das Erkennen
eigener Fehleinschätzungen viel schwerer ist. Aus diesem Grunde wären die Führer der beiden
Großmächte auch bald wieder zur Tagesordnung übergegangen - wenn da nicht die Begegnung
mit der UNICEF-Botschafterin gewesen wäre. - Mußten vielleicht doch die Warnungen ernster
genommen werden, die von der Gefahr der Vernichtung der Menschheit sprachen? - Und da war
auch noch von der Liebe die Rede gewesen. - Mußte man sich nicht doch schämen, so viel für
die Rüstung auszugeben, während bei Natur- und Hungerkatastrophen sich immer wieder eine
ungeheure Hilfsbereitschaft gerade bei den weniger Begüterten zeigte? -
Die Falken unter den Ratgebern unserer Spitzenpolitiker sahen mit diesen
Zweifeln das Unheil nahen, das für sie in der Unterwerfung unter die andere Großmacht
bestand. Doch einer der beiden - war es der Präsident oder der Generalsekretär - oder waren es
beide zugleich - sagte: "Wenn wir von der Richtigkeit unserer Politik wirklich überzeugt sind,
muß sie auch der härtesten Prüfung standhalten. Wir sollten den Vorschlag der
UNICEF-Botschafterin durchführen!" - So geschah es dann auch - gegen den Widerstand der
jeweiligen Berater.
In einem Hungerlager in Äthiopien wurde über den großen Konferenztisch ein
Zeltdach gespannt, um die Sonne abzuhalten. Aber von jeder Seite konnten die Bewohner des
Lagers zusehen, was unter dem Dach geschah. Aber auch umgekehrt konnten die, die am Tisch
saßen - und dazu gehörten auch die Ehefrauen der Politiker - vieles vom Leben und Sterben in
diesem Lager beobachten. Ja, es gab keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen.
Die anfängliche Neugier der wenigen noch einigermaßen kräftigen Lagerinsassen
ließ schnell nach. Die meisten waren ja auch zu schwach und apathisch. Ihr Interesse galt den
freiwilligen Helfern, den Schwestern und Ärzten, die spärliche Lebensmittelrationen verteilten
und sich um die vielen Kranken bemühten - aber häufig erkennen mußten, daß sie nicht würden
helfen können.
Doch dann ging man auf dem Gipfeltreffen an die Tagesordnung, sprach über
Abrüstung und neue Programme wie SDI, die niemanden töten, sondern nur den Krieg
unmöglich machen sollten, damit der Fortschritt in den großen Nationen der Weißen nicht
zunichte gemacht werden konnte. Dabei waren die Positionen der beiden Seiten weit
auseinander.
Für den Abend war eine öffentliche Pressekonferenz vorgesehen, die über die
ersten Zwischenergebnisse berichten sollte. Sowohl der Präsident als auch der Generalsekretär
sprachen von den großen Leistungen ihrer Nationen bzw. Systeme, daß das Wohl der Welt, also
auch das Afrikas, vom Gedeihen des jeweiligen Systems abhänge, daß man deshalb alles tun
müsse, daß es erhalten bleibe. Dazu seien große Opfer nötig. Man rüste ja nicht um der Rüstung
willen, sondern um der Erhaltung des Friedens und des Fortschritts in dieser Welt. -
Es ist kaum möglich diese widersinnige Pressekonferenz zu beschreiben. Für die
Zuschauer wirkte sie so, als ob bei uns auf einer Wahlversammlung ein Kandidat chinesisch
redet. Die First Ladies waren auch bald nicht mehr bei der Sache, sondern ließen ihre Blicke zu
den Zuschauern schweifen. Täuschten sie sich, oder sahen sie wirklich die
UNICEF-Botschafterin? - Jedenfalls sahen sie eine Weiße, die ein Kind nach vorn zu ihnen
schickte. Schwankend, zum Knochengerüst abgemagert, kam es langsam näher. Als es bei ihnen
war, sagte es flehend mit schwacher Stimme: "Ich weiß nicht, was Rüstung ist. Aber Ihr habt zu
essen. Ich habe Hunger!" - Da hielten es die beiden Frauen nicht mehr aus. Sie schämten sich
des Stroms der Tränen nicht, als sie sich umarmten und auch das Kind in ihre Arme nahmen.
Dabei kam etwas in ihnen hoch, das sie in dieser Intensität noch nie gekannt hatten - es war die
Liebe zu allen Mitgeschöpfen, zu dieser Erde, auf der auch sie nur vorübergehend Gast sein
konnten. Es war die Macht der Liebe, die größer war als die Macht ihrer Ehegatten, die doch die
mächtigsten Männer der Erde waren.
Diese Macht der Liebe bewirkte nun, daß alles anders wurde, als es begonnen
hatte. Am Ende des anderen Tages stellten die Verhandlungspartner in einer gemeinsamen
Erklärung fest, daß sie doch beide das Wohl dieser Welt wollten, daß nur ihre Auffassungen
über den Weg unterschiedlich seien. Durch ihr gegenseitiges Mißtrauen würde viel zu viel von
den geistigen und materiellen Möglichkeiten der Menschen auf Probleme konzentriert, die keine
mehr seien, wenn die Liebe in der Welt an die Macht käme. Dann wären mit den freiwerdenden
Kräften leicht alle anderen Probleme, die gerade den Ärmeren so wehe täten, zu lösen, und es
brauche keinen Gegensatz der Systeme mehr zu geben. Von nun an sollten Liebe und Ehrfurcht
vor allem Leben die Politik beherrschen. Ab sofort würden keine neuen Waffensysteme entwik-
kelt und die alten konsequent abgebaut. Jedermann habe das Recht, das zu kontrollieren. Mit
den freiwerdenden Mitteln werde es ein "Wettrüsten gegen die Not und für die Erhaltung der
Natur" geben. Es werde keine Nationalhymnen mehr geben sondern nur noch Beethovens
Schlußchor zur Neunten Syphonie "An die Freude". In den Herzen aller solle es klingen:
"Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! ..."
- Ein Märchen, zu schön, um wahr zu sein. - Wir können aber nur das erreichen,
was auch in unseren Gedanken und in unseren Herzen lebendig ist. - Daß der "Geist der Liebe"
in unserer Welt doch etwas bewegen möge, das sind meine Wünsche zu Weihnachten und für
das Jahr 1986 für alle Verwandten, Freunde und Bekannten, ja für die ganze wundervolle Erde,
auf der wir eine Zeitlang Gast sein dürfen
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